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REFLEXBLUTEN

(Auszug)

Mitte Oktober begannen die Käfer, lästig zu werden.

„Die wollen sich einfach nicht retten lassen. Sieh es doch endlich ein“,

sagt er.

Wie oft hattest du versucht, sie nach draußen zu befördern. Vergeblich. Sie spannten ihre Flügel auf und flogen einfach davon. Dahin, wo du sie nicht finden konntest, aber niemals nach draußen. Wo sie doch ins Freie gehörten.

„Es ist mir ein Rätsel, was die hier suchen. Wenn es wenigstens kalt wäre in den Nächten, dann könnte ich das noch verstehen...“

Gleich würde er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kommen: Die Erderwärmung. Schnell wendest du dich ab, um den Boden und die Fensterbänke abzusuchen. Die Käfer sehen harmlos aus, fast schon sympathisch. Das ist auch der Grund, warum du sie nicht umbringen kannst, wie die Spinnen, die Hornissen, die Euch in diesem Jahr zahlreicher als sonst heimgesucht hatten. Angst und Ekel führen dir dann die Hand, den Fuß. Seine Angst, sein Ekel. Du greifst die Illustrierte, peilst das Ziel an, und dann holst du aus mit ganzer Kraft. Oder mit einem Ausfallschritt und der geriffelten Sohle deiner Hausschuhe... Gelegentlich ein sanftes Knacken, wenn der Chitin Panzer bricht. Immer lässt er dich das regeln. Du hörst die Spannung in seiner Stimme, wenn er nach dir ruft. Dass er dich beim Vornamen nennt, ist im Übrigen selten. Ist es das wert? Manchmal musst du mehrere Male zuschlagen, treten, bevor die Zuckungen enden. Ein totes Tier sieht so viel kleiner und harmloser aus als ein fliegendes, krabbelndes, summendes. Wahrscheinlich zieht es sich zusammen beim Sterben. Menschen dagegen scheinen sich auszudehnen nach ihrem Tod. Wachsen mit ihrer Abwesenheit.

„Das ist eben der Preis einer Wohnung mitten in der Natur.“, sagt er.

„Du bist es jedenfalls nicht, der ihn zahlt.“

Er hebt die Augenbrauen. „Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass wir aufs Land ziehen. DU wolltest doch danach eine vollkommen andere Umgebung! Aber bitte, wenn es dir zu viel Umstände macht. Wir können jederzeit in die Stadt zurück.“

Als ob es DIR etwa zu viel wäre! An einem der ersten warmen Sommerabende - ihr saßt mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse – war dieser Fledermausschwarm aufgetaucht. Umkreiste bei Einbruch der Dämmerung die Lichterkette, die in der Platane über euren Köpfen hing. Die hektischen Flugbewegungen trugen Unruhe in die laue Nacht. Wie dunkle, sehnige Falter stürzten die Fledermäuse ab, stiegen auf, schlugen Haken. Verliehen der Luft eine zähflüssige, unberechenbare Konsistenz. Unter einem Vorwand war er aufgestanden und im Zimmer verschwunden. Kurz darauf hatte der Bildschirm des Fernsehers aufgeleuchtet.

Wenn du nur wüsstest, wie diese Sorte Käfer heißt. Du bist dir sicher, dann könntest du sie beschwören, nicht mehr in die Wohnung zu kommen. Alles, was keinen Namen hat, macht dich hilflos.

„In der Dunkelheit sehen sie schwarz aus, aber in der Sonne eher braun. Vor allem die Flügel. Wenn sie die nicht hätten …“ Du hörst ihn die Seiten seiner Zeitung umblättern.

„Du solltest dir nicht so einen Stress wegen der Käfer machen. Es sind KÄFER.“

Ja, wie die unzähligen Marienkäfer, die vor zwei Tagen das Badezimmer fluteten und Stunden später verschwunden waren. Keine Spur mehr von zwanzig, dreißig, vierzig Marienkäfern. Du hast alles abgesucht. Bis auf drei oder vier, die träge an den weißen Kacheln klebten. Und der Rest? Ein Mysterium. Nur da und dort ein paar gelbe punktförmige Flecken.

„Es müssen wohl die asiatischen gewesen sein: Harmonia axyridis. Steht bei Wikipedia. Wusstest du, dass bei Berührung eine gelbliche Flüssigkeit aus den Gelenken ihrer Laufbeine tritt? Eine Verteidigungsreaktion. Nennt sich Reflexbluten.“

Er schaut von seiner Zeitung auf. Sein Blick sagt: jetzt ist sie endgültig durchgeknallt.

„Vielleicht hättest du lieber einen Insektenforscher heiraten sollen.“

„Ich hatte keinen nötig, bis wir hierher gezogen sind.“

Sobald die Türen zur Terrasse geöffnet sind, vermischt sich das Draußen und Drinnen. Mit zunehmender Wärme drängen Insekten aller Art ins Zimmer. Mücken vom nahegelegenen Weiher, Fliegen, Bienen, Wespen, Hornissen. Gelegentlich auch blasse Libellen. Einige der beeindruckend großen Hornissen fliegen des Abends wie ferngesteuert ins Licht der Zimmerlampen, wo sie an den heißen Halogenbirnen verschmoren. Am nächsten Morgen birgst du die verschrumpelten Körperchen, die leicht sind wie Papier, hebst sie an ihren Flügeln aus den Lampenfassungen. Eigentlich keine schlechte Lösung, wenn nur der Geruch nach verbranntem Eiweiß nicht wäre.

„Insekt“, liest du ihm vom Laptop vor, „frühere Bezeichnung: Kerbtier, kommt aus dem Lateinischen insectum: das Eingeschnittene, das Verb heißt insecare: einschneiden. Wegen ihrer Dreiteilung, der tiefen Einschnitte zwischen Kopf, Brust und Hinterleib.“

„So ist das also“, sagt er und meidet deinen Blick.

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